Citizen Science hat in den letzten Jahren in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, einschliesslich der Geschichtswissenschaften, an Bedeutung gewonnen. Doch was genau bedeutet es, wenn Bürgerinnen und Bürger aktiv in die historische Forschung einbezogen werden? Welche Potenziale bietet dieser Ansatz, und welche Herausforderungen müssen überwunden werden, um Citizen Science erfolgreich in die Geschichtswissenschaften integrieren zu können?
Nikola Stosic ist Projektleiter im Bereich Citizen Science bei Science et Cité. |
«In den Geschichtswissenschaften sind theoretische Reflexionen zum Feld der Citizen Science bislang weitgehend ein Desiderat.» (Seite 16). Es gibt noch viel Potenzial für systematische Untersuchungen und theoretische Auseinandersetzungen, die bisher ungenutzt bleiben. Ein Überblick über zentrale Erkenntnisse aus der kürzlich erschienenen Publikation «Citizen Science in den Geschichtswissenschaften» bietet dazu spannende Einblicke.
Citizen Science in den Geschichtswissenschaften
Die Digitalisierung des Wissenschaftsprozesses ist mit der Öffnung der Wissenschaften für partizipative Formate auf verschiedenen Beteiligungsebenen eng verbunden. Citizen Science bzw. bürgerwissenschaftliche Ansätze gewinnen dabei auch in den Geschichtswissenschaften zunehmend an Bedeutung. Der Band gibt einen praxisorientierten Einblick in vorhandene Infrastrukturen sowie unterschiedliche Projektansätze in den Kernbereichen zivilgesellschaftlicher Beteiligung an historischer Forschung. Dabei werden exemplarisch Potenziale und Herausforderungen bei der Konzeption, Implementierung und Durchführung von historisch orientierten Citizen-Science-Projekten beleuchtet sowie Erfolgskriterien und künftige Perspektiven herausgearbeitet. Der Band möchte somit zur Debatte um die Nutzung von Citizen Science als Methode innerhalb der historischen Forschung beitragen.
Einer der wertvollsten Aspekte von Citizen-Science-Projekten in den Geschichtswissenschaften zeigt sich oft in den unerwarteten Momenten. «Es sind die kleinen Momente des Austauschs, die […] häufig wichtige Forschungsergebnisse hervorgebracht haben – abseits von ausgearbeiteten Thesen, Hypothesen und Forschungsfragen sowie abseits von geplanten Formaten.» (Seite 10). Dieses Zitat verdeutlicht, dass wertvolle Erkenntnisse oft in spontanen Momenten entstehen, die ausserhalb der formalen Struktur eines Projekts liegen. Es betont die Notwendigkeit, innerhalb von Citizen-Science-Projekten flexibel zu bleiben und Raum für ungezwungene Diskussionen und Ideen zu lassen.
«Es sind die kleinen Momente des Austauschs, die […] häufig wichtige Forschungsergebnisse hervorgebracht haben – abseits von ausgearbeiteten Thesen, Hypothesen und Forschungsfragen sowie abseits von geplanten Formaten.»
Eine besonders fruchtbare Verbindung in der Geschichtsforschung ist diejenige zwischen Citizen Science und Oral History. Durch die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in die Erfassung und Analyse historischer Ereignisse wird es möglich, emotionale und subjektive Erfahrungen in die wissenschaftliche Arbeit einfliessen zu lassen. Dies bereichert nicht nur die Forschung selbst, sondern bietet auch der breiten Öffentlichkeit eine tiefere Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte. In diesem Kontext fungiert Citizen Science als Brücke, die akademische Forschung und persönliche Erlebnisse miteinander verbindet.
In einigen Projekten, wie beispielsweise dem im Buch beschriebenen #KultOrtDUS-Projekt, wird Oral History als Methode innerhalb eines Citizen-Science-Projekts verwendet. Hier werden Bürger:innen «nicht nur als Datensammler:innen» einbezogen, sondern auch als aktive Teilnehmer:innen, «die ihre eigenen Erinnerungen und Geschichten teilen und diese im Kontext der wissenschaftlichen Forschung reflektieren» (Seiten 187-204). Oral History kann als eine Methode betrachtet werden, die innerhalb von Citizen-Science-Projekten genutzt wird, um individuelle Perspektiven zu sammeln und zu analysieren. Oral History ist dabei nicht direkt eine Art von Citizen Science, aber sie kann in Citizen-Science-Projekten integriert werden, um deren Ziele zu erreichen.
Oral History: «Als Methode der systemat. Befragung von Zeitzeuginnen und -zeugen für geschichtswissenschaftl. Zwecke entstand O. im angelsächs. Raum und lässt sich bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen. Sie knüpft dabei an die zweifellos älteste Form geschichtl. Überlieferung überhaupt an, nämlich an die mündl. Tradierung. Die Methode soll dazu dienen, schriftlich nie festgehaltenes Expertenwissen, Erfahrungsberichte und Ereignisse geschichtlich fassbar zu machen.»
Ueli Haefeli-Waser: "Oral history", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.11.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027838/2012-11-26/, konsultiert am 13.08.2024. |
Nicht jedes historische Thema eignet sich jedoch für die Umsetzung in einem Citizen-Science-Projekt: «[W]enn gewisse Voraussetzungen nicht erfüllt sind, handelt es sich entweder um eine Fehlkonstruktion oder um Etikettenschwindel.» (Seite 16). Hierbei ist es entscheidend, dass Projekte sorgfältig ausgewählt und geplant werden, um sicherzustellen, dass sie sowohl für die wissenschaftlichen Ziele als auch für die beteiligten Bürgerinnen und Bürger sinnvoll und erfüllend sind. (siehe Prinzip 2 «Ziel» der Schweizer Citizen Science Prinzipien) Eine klare Abgrenzung und Definition der Projektthemen und -ziele ist unerlässlich, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen.
Die Erwartungen an Citizen Science, insbesondere hinsichtlich der Demokratisierung der Wissenschaft und der gleichberechtigten Teilhabe, sind hoch, aber oft schwer zu erfüllen. Viele Projekte sind eher kontributiv als ko-kreativ, was bedeutet, dass Bürger:innen in erster Linie Daten beisteuern, aber nicht aktiv in die Gestaltung der Forschung eingebunden sind. Ein kritisches Zitat aus der Publikation lautet: «Zu stark ist dafür weiterhin die Trennung zwischen Laien und Expertinnen bzw. Experten und zu sehr sind die Teilnehmenden als Hilfskräfte tätig, die primär einen vordefinierten, meist wenig individuellen und vergleichsweise simplen Beitrag zu Wissenschaft leisten.» (Seite 16). Diese Kritik unterstreicht, dass in vielen Citizen-Science-Projekten die Citizen Scientists lediglich unterstützende Rollen einnehmen. Um das volle Potenzial von Citizen Science auszuschöpfen, ist es notwendig, diese Hierarchien zu überwinden und eine echte Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern.
Ein weiterer zentraler Aspekt für den Erfolg von Citizen-Science-Projekten in den Geschichtswissenschaften ist die Datenkompetenz, auch als Data Literacy bekannt. Ohne ein grundlegendes Verständnis für den Umgang mit Daten können Citizen Scientists oft nicht effektiv an Projekten teilnehmen oder deren Ergebnisse korrekt interpretieren. Deshalb ist es wichtig, dass Projekte gezielte Schulungen und Unterstützung anbieten, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten die notwendigen Fähigkeiten erwerben, um aktiv und kompetent mitwirken zu können.
Data Literacy («Datenkompetenz») umfasst die Fähigkeiten, Daten auf kritisch-reflexive Weise in ihrem jeweiligen Kontext zu sammeln, zu verwalten, zu bewerten und zu verwenden. Dies geschieht unter Einhaltung datenethischer Grundsätze und des Datenschutzes. Mehr dazu in der Data Literacy Charta Schweiz von den Akademien der Wissenschaften Schweiz. |
Die Publikation zeigt, dass Citizen Science in den Geschichtswissenschaften ein noch junges und experimentelles Feld ist, das jedoch grosses Potenzial zur Erweiterung der Forschungsperspektiven bietet. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass es notwendig ist, die methodischen Ansätze weiterzuentwickeln und strukturelle Hürden zu überwinden.
«Citizen Science kann die Erwartungen, die Fördergeber, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an das Feld richten, aktuell häufig nicht erfüllen.»
Es besteht ein Bedarf an stärkerer institutioneller Unterstützung und einer breiteren Akzeptanz dieser Ansätze innerhalb der akademischen Gemeinschaft. Zudem ist es wichtig, realistische Erwartungen zu haben. «Citizen Science kann die Erwartungen, die Fördergeber, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an das Feld richten, aktuell häufig nicht erfüllen.» (Seite 19) Besonders in den Geschichtswissenschaften seien es bisher vor allem einfache Aufgaben wie Crowdsourcing und Transkription, die umgesetzt werden, während komplexere Formen der Zusammenarbeit noch die Ausnahme bilden würden.