Citizen Science für gesellschaftlichen Mehrwert: Einblick in die Förderpraxis der Hans Sauer Stiftung

Die Hans Sauer Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung mit einem Fokus auf technische und soziale Innovationen für gesellschaftliche Mehrwerte. Dabei setzt sie auf innovative Forschungsmethoden und -praktiken.

Das aktuelle Förderprogramm der Stiftung unterstützt Vorhaben, die wissenschaftsbasiert gesellschaftliche Aspekte der Nachhaltigkeit untersuchen und dabei einen kollaborativen und ko-kreativen Citizen-Science-Ansatz verfolgen. 

Wir sassen mit Veneta Gantcheva-Jenn, Leiterin des Förderprogramms, und Nadja Hempel, Mitglied des Förderausschusses, zusammen, um mehr über den Fokus auf Citizen Science bei der Hans Sauer Stiftung zu erfahren.

Veneta Gantcheva-Jenn ist Diplom-Psychologin, arbeitet seit 2016 bei der Hans Sauer Stiftung und leitet den Förderbereich.
Am Forschungsmodus Citizen Science begeistert sie insbesondere die Möglichkeit, aktuelle Fragestellungen aus der
Gesellschaft in die Wissenschaft zu tragen sowie Menschen den Zugang zu Wissenschaft und Forschung zu ermöglichen,
die wenig Berührungspunkte dazu haben.
 
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Nadja-HSSfinal.png            Nadja Hempel ist Sozial- und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin (M. Sc.), seit 2018 bei der Hans Sauer Stiftung
tätig und Mitglied des Förderausschusses. Ihr besonderes Interesse gilt Citizen-Science-Projekten,
die mit ihrer Forschung gesellschaftliche Probleme aufgreifen und konkrete Lösungsansätze anstossen.

 

1. Was versteht die Hans Sauer Stiftung unter «gesellschaftlichem Wissen»?

Unter "gesellschaftlichem Wissen" verstehen wir implizites Alltags- oder situatives Wissen von unseren Mitmenschen, das eine grundlegende Bedingung für wissenschaftliche Vorhaben darstellt. Dieses Wissen hilft oft bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Ein Beispiel ist ein gefördertes Projekt in Hamburg, bei dem das Wissen der BewohnerInnen eines bestimmten Viertels unerlässlich war, um die Gesundheitssituation zu verstehen und Massnahmen zur Verbesserung zu entwickeln. Die Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft und die Berücksichtigung ihres Wissens führten zu passenden Lösungen.

 

2. Welche Rolle spielt dabei Citizen Science?

Citizen Science ermöglicht es, situatives Alltagswissen in den Forschungskontext einzubeziehen. Dadurch können Erkenntnisse gewonnen werden, die ohne dieses Wissen nicht möglich wären. Das Beispiel aus Hamburg zeigt, wie sich durch diesen Ansatz ein lokaler Mehrwert generieren lässt und Lösungen für lokale Probleme identifiziert werden. Die Einbindung des Alltagswissens ermöglicht eine effektivere Forschung und trägt zur Lösung lokaler Herausforderungen bei.

 

3. Das aktuelle Förderprogramm der Hans Sauer Stiftung unterstützt Citizen Science Projekte, die einen kollaborativen und ko-kreativen Citizen-Science-Ansatz verfolgen. Wie kam es dazu, dass Citizen Science als Schwerpunkt für die aktuelle Förderperiode gewählt wurde?

Die Stiftung verfolgt das Ziel, gesellschaftliche Herausforderungen anzugehen und Transformationsprozesse zu initiieren und zu begleiten. Ihre Prinzipien sind Partizipation, Transdisziplinarität, Gestaltung und Innovation. Da Citizen Science diese Prinzipien unterstützt und die Verbindung zum Stiftungszweck besteht, wurde es als Schwerpunkt gewählt. Die Stiftung fördert Projekte mit einem kollaborativen Charakter, bei denen Beteiligte frühzeitig und intensiv in den Forschungsprozess einbezogen werden.

 

4. Welche neuen Perspektiven haben sich euch durch die Förderung von Citizen-Science-Projekten eröffnet?

Das Fördern von Nischenprojekten hat gezeigt, dass mutige Ideen positive Ergebnisse bringen können. Durch die Teilnahme an Konferenzen und Austausch mit Projekten konnte die Stiftung besser verstehen, was diese im Projektalltag benötigen. Diese Perspektiven werden für zukünftige Förderprogramme berücksichtigt. Die Stiftung hat auch für sich selbst viel Erkenntnisgewinn erlangt und wir können uns gut vorstellen, in Zukunft ein eigenes Citizen Science Projekt zu realisieren.

 

5. Wie viele Anträge habt ihr bisher erhalten und wer kann alles einen Antrag stellen?

Die Stiftung hatte das Ziel, ein faires Verhältnis zwischen Anträgen und Förderpaketen zu erreichen, das ist mit einer Quote von 4,5:1 gelungen.  

Die Förderung richtet sich an gemeinnützige Organisationen und Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Sitz in Deutschland, einschliesslich Hochschulen und Universitäten, die Projekte im Bereich Wissenschaft und Forschung planen. Dabei möchte die Stiftung auch gezielt kleinen Organisationen und Projekten eine faire Chance bieten. Wir führen vor der Antragstellung Beratungsgespräche, um bei der Entwicklung der Ideen zu helfen und den Aufwand für die Antragstellenden zu minimieren.

 

6. Welche Kriterien habt ihr für die Auswahl der geförderten Projekte definiert?

Wir haben insgesamt 17 Kriterien definiert und auf der Website des Förderprogramms transparent gemacht. Wichtige Kriterien sind ein durchdachtes Beteiligungskonzept, das eine hohe Partizipation ermöglicht. Die Stiftung legt auch Wert auf Kooperation und Zugänglichkeit des Forschungsvorhabens, zum Beispiel durch die Übernahme von Fahrtkosten oder die Bereitstellung von Kinderbetreuung für Citizen Scientists. Eine transparente Kommunikation von Seiten der Berufsforschenden, etwa bei der Definition von Erwartungen und Arbeitsumfang, ist uns auch sehr wichtig. Die Stiftung erwartet nicht, dass ein Projekt alle 17 Kriterien erfüllt, sondern betrachtet sie als Orientierungsrahmen. Ein viel diskutiertes Kriterium ist die Innovativität, bei der es darum geht, dass Projekte nicht zwingend etwas völlig Neues erfinden müssen, auch können sie Altbewährtes in einem neuen Kontext ausprobieren.

 

7. Was bedeutet transformatives Potenzial?

Das transformative Potenzial bezieht sich darauf, wie ein Projekt fundierte Erkenntnisse und gemeinschaftlich getragene Lösungsansätze für gesellschaftliche Herausforderungen generieren kann, wie etwa beim zuvor genannten Beispiel aus der Stadt Hamburg. Dabei spielt Citizen Science eine wichtige Rolle. Solche Transformationsprozesse können die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger beeinflussen und zur Unterstützung sozialpolitischer Prozesse dienen, indem konkrete Massnahmen für die Politik formuliert werden.

 

8. Welche Mechanismen können Förderorganisationen schaffen, um das transformative Potenzial von Citizen Science effektiver auszuschöpfen?

Förderorganisationen können spezifische Projektphasen unterstützen, wie zum Beispiel die Evaluationsphase. Die Hans Sauer Stiftung fördert besonders gern Projekte, bei denen die BürgerInnen  aktiv am Forschungsprozess beteiligt sind, auch bei der Interpretation und Nutzung der Ergebnisse und nicht als blosse Datenlieferanten dabei sind.

 

9. Als Teil des Förderantrags verlangt ihr von den Initiatorinnen unter anderem ein Partizipationskonzept. Was ist damit genau gemeint und weshalb ist es für Citizen Science relevant?

Ein ausgearbeitetes Partizipationskonzept verlangen wir nicht. Ein gutes Citizen Science Projekt sollte ein Plan haben, wie alle Akteure und insbesondere die Citizen Scientists am Forschungsprozess beteiligt werden. Die genaue Ausgestaltung kann je nach Projekt variieren und sollte die Präferenzen und Bedürfnisse der BürgerInnen berücksichtigen. Eine transparente und partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist dabei von grosser Bedeutung. Ein mögliches Instrument zur Umsetzung von Partizipation ist die Definition von Partizipationsstufen in einem Projektzeitplan. Für jede Projektphase wird skizziert, auf welcher Ebene die Partizipation stattfinden soll. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Wertschätzung und Anerkennung aller Beteiligten zum Beispiel durch Aufwandsentschädigungen, Beteiligung an Veröffentlichungen und durch gemeinsame Veranstaltungen.

 

10. Ihr sprecht von transparenter Kommunikation? Welche Rolle spielt diese bei der Bewertung von Citizen-Science-Projekten?

Transparente Kommunikation spielt eine wichtige Rolle bei der Bewertung von Citizen-Science-Projekten. Die interne Kommunikation zwischen allen Kooperationspartnern ist  wichtig, um den Projekterfolg zu gewährleisten. Die BürgerInnen sollten über den Verlauf des Projekts informiert werden und Rückmeldungen über die Nutzung der Daten und die erzielten Ergebnisse erhalten.

Allerdings legt die Stiftung weniger Wert darauf, dass ein Projekt eine perfekte Öffentlichkeitsarbeit nachweisen kann oder dass am Ende eine wissenschaftliche Publikation steht.

 

11. Wie wird in den Projekten die wissenschaftliche Qualität der erhobenen Daten und Ergebnisse sichergestellt und welche Evaluations- und Reflexionsmassnahmen werden durchgeführt?

Die Stiftung befürwortet Evaluations- und Reflexionsphasen als Teil des Projekts, die im Antrag ersichtlich werden. Kooperationen mit Universitäten oder eine Projektbegleitung durch Wissenschafter*innen werden zudem  positiv bewertet, das Fehlen solcher ist jedoch kein Ausschlusskriterium.  Ein Beispielprojekt, das gefördert wird, befasst sich mit der Zukunft des Wohnens und wurde von einer zivilgesellschaftlichen Organisation eingereicht. Sie haben sich die Universität in Lüneburg als Kooperationspartner geholt, die über Expertise in quantitativen Nachhaltigkeitsmethoden verfügt. Die Citizen Scientists erhalten während des Projekts regelmässige Sprechstunden an der Universität, in denen sie Probleme bei der Datenerhebung besprechen und sich von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen beraten lassen können. Dies wird als positives Zeichen dafür gewertet, dass das Projekt eine hohe Qualität erreicht. Es geht uns allerdings nicht in erster Linie um Exzellenzansprüche an das wissenschaftliche Arbeiten, sondern vielmehr um Erkenntnisgewinn für gesellschaftliche Fragestellungen der Nachhaltigkeit und um gemeinsame Lernprozesse und Wissensproduktion.

 

12. Welche Impulse spürt ihr aus der Schweiz?

Wir sind begeistert von der Citizen Science-Community und den Vernetzungen zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland. Die Zusammenarbeit auf Konferenzen und der Austausch von Veröffentlichungen haben uns inspiriert. Insbesondere die zehn Citizen Science-Prinzipien aus der Schweiz haben uns als Inspirationsquelle für unsere Kriterien gedient.

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